Doc Angelo hat geschrieben: ↑03.05.2018 22:56
Ich hab heute mit einem Kind gearbeitet, über dessen Heimat Geschosse explodiert sind. Er hat mir heute erzählt, das er keine Briefe aufmachen darf, weil Gift und Bomben drin sein können - alte Gewohnheit der Eltern. Ob er schon mal bei realer Gewalt an Menschen anwesend war, weiß ich nicht. Nicht alle Dinge werden so mir nichts dir nichts ausgepackt. Aber wenn ja... wie das wohl für so ein Kid ist, so eine Folterszene zu spielen? (Dieser Absatz aber nur so am Rande, eigentlich gehts ja um den Genuss von interaktiven Medien für Erwachsene.)
Möglicherweise abstrahiert das Kind da besser als du.
Als ich jung war, hab' ich bei einem Freund Doom und Mortal Kombat gespielt (und Hexen, Heretic, Rise of the Triad, etc..). Als Doom erschien war ich 10 und als MK erschien war ich 12. Mir war damals auch klar dass das mit realer Gewalt überhaupt nichts zu tun hatte; denn reale Gewalt hab' ich jeden Tag in der Schule erlebt. Vorn am Eingang stand zwar "Schule ohne Gewalt", gestimmt hat das aber überhaupt nicht. Ein Junge der mit in meiner Klasse war hatte immer einen Teleskopschlagstock dabei und seine Eltern mussten dauernd antanzen weil er sich mal wieder geprügelt hatte. Ein anderer hat in der Pause in den abgelegeneren Bereichen andere Kinder um ihr Milchgeld erleichtert und jemand aus der Parallelklasse hat nach der Schule erstmal einige Zeit im Bau gesessen nachdem er einige Tankstellen überfallen hatte. Prügeleien hatte ich jede Woche, musste mich dauernd wehren. Trotzdem gab es zwischen der real erlebten Gewalt im Alltag und der Gewalt am Bildschirm für mich überhaupt keine Verbindung. Natürlich haben wir gedacht "Boah guck mal, wie brutal!" wenn bei Doom die Gegner zerplatzt sind oder man jemandem bei MK die Wirbelsäule ausgerissen hat. Aber mit realer Gewalt haben wir das überhaupt nicht in Verbindung gebracht. Auch nicht, als wir dann mit 13 Resident Evil gespielt haben.
Was die Folterszene angeht: Es ging auch damals vielen Leuten mit der Kritik nicht weit genug. Es gehört aber auch ein langer Dialog dazu, der an die Szene anschließt wenn man das Opfer zum Flughafen fährt und auch vorher wird mit Dialogen entsprechend eingeleitet. Die Folterung an sich ist also in einen Gesamtkontext eingebunden, der sich durchaus kritisch äußert. Zu beachten ist allerdings, dass "kritisch" nicht mit "wertend" gleichzusetzen ist. Ich glaube viele Leute wollten dass sich das Spiel klar abwertend äußert. Tut es aber nicht. Es drückt seine Kritik nüchtern und wertfrei aus. Das kann einem genügen, oder auch nicht. Ich denke hier ergeben sich die Reibereien. Ich finde gerade das jedenfalls gut, denn es sagt dir nicht wie du dich nach der Folterszene als Folterer fühlen sollst, sondern zwingt dich über das Geschehene nachzudenken und über dich selbst zu reflektieren. Hat dich die Szene abgestoßen, oder hat sie sogar Spaß gemacht? Da kannst du einiges über dich selbst herausfinden, und da sind wir wieder bei Kunst.
Videospiele dürfen ganz klar alles, was auch immer sie wollen. Verbote gibts da von meiner Seite aus keine.
Ich denke Computer-Spiele entwachsen so langsam dieser Art von Kinder-Schuh. Zum einen gibts da Shadow of the Colossus, was für mich eine heftige Tragödie darstellt, die dem Spieler behutsam und langsam vorführt, welche Konsequenzen sein handeln haben. Oder auch Dear Esther, welche das Thema mit der (leichten) Interaktivität toll angegangen sind.
Sicherlich gibt es ein paar Spiele die sich thematisch erwachsen präsentieren. Ich würde z.B. auch The Last of Us dazu zählen. Nicht weil es dort Blut und Gewalt gibt, sondern weil der eigentliche Konflikt in den Hauptfiguren stattfindet und durch sehr gut geschriebene Charaktere und Dialoge nach außen geschält wird. Auf der anderen Seite frag dich mal warum jeder ausgerechnet diese Spiele nennt - SotC, Dear Esther, Gone Home oder auch Firewatch. Weil sie besonders gut sind? Ja, zum Einen. Zum Anderen aber auch weil sie die Ausnahme von der Regel darstellen.
Aber wie das bei eher blutigen, brutalen und sadistischen Dingen ist, da bin ich mir nicht so sicher wie ich das sehen möchte. Die Interaktivität des Mediums hat halt nicht nur positives Potential gegenüber des Buches, des Bildes oder des Films, sondern auch negatives Potential. Eine "gut" gefilmte und realistisch dargestellte Vergewaltigung kann schon ein harter Brocken sein, der einem den Tag versaut. Aber ein gut gemachtes und eindringlich gestaltetes Vergewaltigungs-Spiel? Da stelle ich dann selbst als alter Pen&Paper-Rollenspieler in Frage, was das emotionale Durchleben des Vorganges als Täter bringen soll.
Auch da kommt es drauf an wie die Präsentation stattfindet. Sicher schonmal nicht aus der Perspektive des Täters. Zum einen aus ehtisch-moralischen Gründen nicht. Zum Anderen aber auch aus ganz praktischen, dramaturgischen Gründen: Wir sollen uns in Videospielen mit unserem Avatar identifizieren können. Deswegen ist selbst ein Massenmörder wie Nathan Drake ein sympathisches Schlitzohr und eine eiskalte Mörderin wie Lara Croft wird als verletzlich und menschlich dargestellt. Ob das bei einer Vergewaltigung noch funktioniert - ich bezweifle es, jedenfalls für den Teil der spielenden Bevölkerung der in der Lage ist zu reflektieren (was ja heutzutage scheinbar die wenigsten können..).
Folgenden Satz möchte ich auch nochmal herausstellen:
Die Interaktivität des Mediums hat halt nicht nur positives Potential gegenüber des Buches, des Bildes oder des Films, sondern auch negatives Potential.
Auch diese Medien haben viel negatives Potential. Zum Beweis muss man sich nur Propaganda aus dem 3. Reich anschauen. Da sind Videospiele, bzw. deren Interaktivität nicht anders. Die Interaktivität bietet dir die Möglichkeit, ein Werk "zu spüren", den Kampf gegen was auch immer selbst auszutragen, statt dich nur rein gedanklich in eine Situation zu versetzen. Aber das ist ja erstmal wertfrei. Wie die Interaktivität dann eingesetzt wird hängt vom Entwickler ab und da unterscheiden sich Videospiele kein bisschen von den anderen Medien. Auch ein Film, Buch, Theaterstück, Plakat kann dich leicht manipulieren. Dazu braucht es keine Interaktivität und die Vergangenheit und Gegenwart zeigen dass die Macht dieser älteren Medien ohnehin schon so stark ist dass sie Menschen zu jedem nur denkbaren Extrem verleiten können. Interaktivität macht da keinen Unterschied mehr. Salopp gesagt: Schlimmer wird's dadurch auch nicht mehr.
Überhaupt stelle ich die Fixation auf (brutale) Konflikte immer mehr in Frage. Ich habe die Tage ein paar Doku-Schnipsel über die Entstehung von Star Trek TNG gesehen. Roddenberry hat in seinen letzten Tagen (die ersten drei Staffeln) sehr darauf geachtet, das es unter den Charakteren der Crew keine nennenswerten Konflikte gibt. Seine Vision von der Zukunft. Scheinbar konnten die Schreiberlinge damals nur noch mit dem Kopf schütteln und hielten ihn für Wahnsinnig. Es kamen Kommentare wie: "Roddenberry verstand nicht, das es ohne Konflikt keine Geschichte gibt! Es gibt wortwörtlich nichts zu schreiben, wenn es keinen Konflikt gibt! Uns waren praktisch die Hände gebunden!"
Die Doku hab' ich auch gesehen, auf Netflix glaube ich. Eine gute Geschichte braucht definitiv immer einen Konflikt. Ich habe die Folge die du ansprichst nicht gesehen, aber ich wette dass es auch dort einen Konflikt gibt. Konflikt bedeutet ja nicht zwangsweise dass Figuren miteinander im Clinch liegen und sich (physisch, psychisch, verbal) bekämpfen. Man kann auch Konflikte mit sich selbst austragen. Die Folge heißt schon "The Inner Light" und ohne sie gesehen zu haben klingt das schon danach als ginge es darin um einen inneren Konflikt einer oder mehrerer Figuren. Man kann sich auch im Konflikt mit seiner Vergangenheit oder Herkunft befinden. Aber es geht in jeder guten Geschichte immer darum, einen Konflikt auszutragen, ein Hindernis zu überwinden.
edit: Ich hab' mir grade mal eben die Wikipedia-Zusammenfassung von "The Inner Light" durchgelesen. Die Folge ist doch voll von Konflikten: Picard trägt zuerst einen Konflikt mit sich aus, als es darum geht sein "neues Leben" zu akzeptieren, während man auf der Enterprise einen Konflikt austrägt in dem es darum geht, dass man Picard retten will, damit aber sein Leben riskiert. Dann gibt's den Konflikt mit dem Verwalter des Dorfes, der schon lange von der Supernova weiß, Picard trägt einen Konflikt mit der Trauer um seine Frau aus.
All diese Konflikte werden gewaltfrei und durch Diplomatie gelöst, wie es in den meisten TNG-Folgen der Fall ist. Das bedeutet aber nicht dass es keine Konflikte gibt. Roddenberry hat seine Writer eben dazu gebracht, Konflikte abseits von Schießereien zu suchen. Deswegen sind die Konflikte aber trotzdem da.
Ich bin der Meinung, man sollte mehr in diese Richtung gehen. Es muss nicht zwangsweise immer ohne Blut und Knochen sein, aber auch nicht zwangsweise immer mit.
Es geht doch schon jetzt nicht immer um Blut und Knochen, das ging es noch nie. Schon auf dem SNES gab es Spiele wie Sim City, F-Zero, Pilotwings und andere, in denen es nicht um Gewalt ging und Beispiele für moderne Spiele ohne Gewalt hab' ich oben mit Gone Home und Firewatch genannt; Dear Esther hast du selbst aufgezählt. Spontan fielen mir auch noch Journey ein, oder The Last Guardian. In letzterem gibt es zwar Gewalt, aber man führt sie nicht selbst aus sondern sucht Schutz davor.